Am Mittwoch, dem 9. Juli 2014, strahlte Deutschlandfunk ein Interview mit Dr. Matthias Sträßner zum Thema „Rundfunkchor Berlin im Streik“ in der Sendung „Kultur heute“ aus. Das Interview ist inzwischen nicht mehr in der ARD-Mediathek verfügbar, sondern nur noch auf Podacastpedia.org.

Bis auf einen Fakt, den man bezweifeln kann, nämlich die Frage, ob der Rundfunkchor Berlin nun einen gültigen Tarifvertrag besäße, oder nicht, gibt Dr. Sträßner, Hauptabteilungsleiter für Kultur beim Deutschlandfunk und Mitglied im Kuratorium der ROC GmbH, sehr kundig Auskunft zu den Hintergründen des Tarifkonflikts als Aulöser für den Streik.

Zu der Frage nach einem gültigen Tarifvertrag hat sich der Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins, Dr. Rolf Bolwin, von Anbeginn der Tarifverhandlungen innerhalb der ROC GmbH im Januar 2011 stets eindeutig geäußert, indem er von einer „tariflosen Situation“ sprach. Auch das Bundesarbeitsgericht hat in einem Urteil vom Juni 2013 festgestellt, dass der 1992 abgeschlossene, alte Tarifvertrag seit Bestehen der ROC GmbH (1.1.1994) keine Tarifbindung mehr besitzt.

Das Interview führte Kathrin Hondl. Hier ein Transkript:

Hondl: Drei Grammys, der Diapason d’or und unzählige Echo-Klassik-Preise: Der Rundfunkchor Berlin ist nicht nur der älteste Rundfunkchor in Deutschland, er gehört auch international zu den herausragenden Chören. Seit gestern allerdings sind die 64 Sängerinnen und Sänger verstummt. Der Rundfunkchor Berlin ist in einen unbefristeten Streik getreten – zum ersten Mal in seiner 89-jährigen Geschichte. Eine Aufnahme des Deutschen Requiems von Johannes Brahms, die gestern Abend geplant war, ist ausgefallen. Mit dem Streik protestiert das Ensemble dagegen, dass das Kuratorium der Trägergesellschaft des Chors, der ROC GmbH, die Unterschrift unter einen Tarifvertrag verweigert hat. Der Rundfunkchor Berlin arbeite seit 21 Jahren ohne Tarifvertrag, heißt es in der Pressemitteilung zum Streik des Ensembles. Vor 10 Jahren habe es die letzte Gehaltsanpassung gegeben. Im Studio ist Matthias Sträßner, Hauptabteilungsleiter für Kultur hier beim Deutschlandfunk und als Vertreter von Deutschlandradio Mitglied im Kuratorium der ROC GmbH.

Und, Herr Sträßner, zunächst einmal, wie kann das überhaupt sein, dass der Rundfunkchor Berlin seit 21 Jahren ohne gültige Tarifvertrag arbeitet?

Sträßner: Diese Formulierung stimmt in der Form nicht. Die haben schon einen Tarifvertrag, der auch gültig ist. Dieser Tarifvertrag ist nur nicht mehr zeitgemäß. Der Rundfunkchor, wie wir ihn uns klassisch vorstellen, der im Studio singt, der bei sinfonischen Konzerten die vokale Seite abdeckt, das sind Auftrittsarten eines Chores, die der Vergangenheit angehören. Das ist zwar auch noch so, auch zum großen Teil noch so auf Tourneen. Aber es hat sich ein neuer Teil dazugestellt, wo einem solchen Chor auch szenische Projekte abverlangt werden, z. B. mit den Berliner Philharmonikern Matthäuspassion, Pepping Passion …, wo mehr gefordert ist als nur das Singen, sondern auch opernartige Auftritte. Und der Chor hat zu Recht gesagt, wir wollen a) mal, dass unser Tarifvertrag aufschließt zu den Verträgen der anderen Mitglieder in der ROC GmbH, und wir wollen natürlich auch für unsere intensivierten und auch flexibilisierten Leistungspflichten … wollen wir eben eine neue Vergütung haben. Und die sollte mit dem neuen Vertrag geregelt werden.

Hondl: Und über diesen neuen Vertrag wird ja nun schon seit über zwei Jahren verhandelt. Was macht da die Einigung so schwierig? Es hört sich ja so an, als ob das durchaus ein legitimes Anliegen des Chors ist, dieser neue Vertrag.

Sträßner: Also zum Einen muss man sagen, dass alle Verträge verhandelt worden sind, nicht nur der vom Rundfunkchor Berlin. Und er kam eben in der Reihenfolge nach dem Rundfunksinfonieorchester, und von daher hatten wir einen gewissen Aufschub. Aber der Chor hat auch besonders hart verhandelt, muss man sagen, weil er eben gerade neue Möglichkeiten des Auftritts mit hinein verhandeln wollte, und wir eigentlich auch bereit waren, das zu machen. Die Gesellschafter hatten eigentlich auch alle den Rahmen dieser Verhandlungen akzeptiert, aber sie waren jetzt doch von dem Ergebnis, dass sozusagen herauskam, doch überrascht, weil in der Tat die Summen, um die dann die Verträge erhöht werden müssen, doch in einem höheren, jedenfalls deutlich zweistelligen, Bereich Steigerungen sind, und die Gesellschafter nur gesagt haben, diese fiskalische Seite ist zur Zeit so nicht vermittelbar. Wobei hier eine unterschiedliche Einschätzung vorlag seitens des Bundes und vom Land Berlin – die beiden Rundfunkanstalten hatten deutlich gesagt, dass sie vom Grunde mit diesem Vertrag leben können.

Hondl: Also das wäre dann die Position auch des Deutschlandradios, für das Sie als Mitglied im Kuratorium dieser ROC GmbH sitzen, oder wie ist die Position des Deutschlandradios?

Sträßner: Ja … also ich will hier nicht falsch verstanden werden, dass ich hier ein Bund-Bashing oder ein Berlin-Bashing betreiben möchte, sondern ich habe hohes Verständnis dafür, dass die Haushälter, die es in Berlin, die es im Bund gibt, sagen, das ist eine Steigerungsquote, die man heute der Öffentlichkeit und gegebenenfalls der Bild-Zeitung oder anderen ganz schlecht erklären kann. Aber hier wurden wirklich Ansprüche über 10 Jahre angehäuft, und die haben sich potenziert, und …

Hondl: Kann man da mal eine Zahl nennen? „Zweistelliger Bereich“ haben Sie vorhin gesagt.

Sträßner: Würde ich deswegen ungern tun, weil es eigentlich mehrere Komponenten sind, um die es geht. Und die würde ich auch gerne erklären:

Es gibt eine Gerechtigkeitslücke, die es tatsächlich zwischen den Ost-Ensembles und den West-Ensembles in der ROC gab. Die betraf das Rundfunksinfonieorchester, und die betraf eben den Rundfunkchor Berlin, die beide frühere Ost-Ensembles sind, um das mal ein bisschen verkürzt zu sagen. Und deren Verträge lagen tatsächlich unter dem Niveau der anderen beiden Ensembles in der ROC, RIAS Kammerchor und Deutsches Sinfonieorchester. Und es war angezeigt, diese Gerechtigkeitslücke, wie ich es einmal sagen will, diese Ost-West-Anpassung zu vollziehen. Das ist sicherlich der größte Batzen des Ganzen. Und da wir das für das Rundfunksinfonieorchester bereits getan haben, nämlich vor einem Jahr [Anm.: Der Tarifvertrag mit dem Rundfunksinfonieorchester wurde bereits im Sommer 2012 abgeschlossen.] mit Erfolg getan haben, wäre es jetzt nur konsequent und konkludent, wenn wir es beim Rundfunkchor auch tun.

Die zweite Komponente sind eben die neuen Auftrittsarten, die es für den Rundfunkchor gibt, und die hier separat gewürdigt werden. Und hier ist gegebenenfalls ein Punkt, wo man vielleicht nochmal nahhaken kann, wenn alle guten Willens sind.

Hondl: Hmm, wenn alle guten Willens sind … Der Chor hat jetzt angekündigt, unbefristet streiken zu wollen. Wie geht’s denn jetzt weiter – guten Willens oder nicht?

Sträßner: Also ich will jetzt die Streiksituation nicht kommentieren. Ich bin mir gar nicht sicher, ob das so günstig ist, sich so zu verhalten. Für den Rundfunk, für das Deutschlandradio, aber ich glaube auch für den RBB, kann ich sagen: An den Rundfunkpartnern der ROC scheitert dieser Vertrag nicht. Was nicht heißt, dass man vielleicht klugerweise sich den einen oder anderen Punkt nochmal genau anschauen sollte, und deswegen brauchen wir sofort Aufnahme von Tarifgesprächen.

Hondl: Zum Streik des Rundfunkchors Berlin war das Matthias Sträßner, Hauptabteilungsleiter für Kultur hier beim Deutschlandfunk und Mitglied im Kuratorium der ROC GmbH.